Donnerstag, 25. Oktober 2012

extrem traurig

Am nächsten Morgen sage ich Mom, dass ich wieder nicht zur Schule gehen könne. Sie fragte mich, was nicht stimme. Ich erwiderte: "Das, was immer nicht stimmt." "Bist du krank?" "Ich bin traurig." "Wegen Dad?" "Wegen allem." Sie setzte sich neben mich aufs Bett, obwohl sie es eigentlich eilig hatte. "Was heißt 'wegen allen'?" Ich zählte an den Fingern auf: "Die Fleisch- und Milchprodukte in unserem Kühlschrank, Schlägereien, Autounfälle, Larry..." "Wer ist Larry?" "Der Obdachlose, der vor dem Museum of Natural History steht und beim Betteln immer sagt: 'Ist nur für Essen, ehrlich'."  Sie drehte sich um, und während ich meine Aufzählung forsetzte, zog ich ihr den Reißverschluss am Kleid hoch. "Dass du Larry nicht kennst, obwohl du ihn bestimmt ständig siehst, dass Buckminster immer nur schläft und frisst und ins Bad trottet und keine raison d'etre hat, der kleine hässliche Typ ohne Hals, der im IMAX-Kino die Eintrittskarten einsammelt, dass die Sonne eines Tages explodiert, dass ich an jedem Geburtstag mindestens eine Sache geschenkt bekomme, die ich schon habe, arme Leute, die fett werden, weil sie Fast Food Essen, weil es billiger ist..." An diesem Punkt gingen mir die Finger aus, obwohl ich gerade erst mit der Liste begonnen hatte, und weil ich wusste, dass Mom erst dann gehen würde, wenn ich alles aufgezählt hatte, sollte die Liste möglichst lang sein. "... Haustiere, dass ich ein Haustier habe, Albträume, Microsoft Windows, alte Menschen, die den ganzen Tag einsam herumsitzen, weil es niemanden einfällt, sie zu besuchen, und weil sie zu schüchtern sind, um jemanden einzuladen, Geheimnisse, Telefone mit Wählscheibe, dass chinesische Kellnerinnen ständig lächeln, selbst wenn es gar nichts Fröhliches oder Lustiges gibt, und außerdem, dass Chinesen mexikanische Restaurant besitzen, aber kein Mexikaner ein chinesisches Restaurant besitzt, Spiegel, Kassettendecks, dass ich in der Schule unbeliebt bin, Omas Gutscheine, Lagerräume, Leute, die nicht wissen, was das Internet ist, schlechte Handschrift, schöne Lieder, dass es in fünfzig Jahren keine Menschen mehr gibt..." "Wer hat behauptet, dass es in fünfzig Jahren keine Menschen mehr gibt?" Ich fragte sie: "Bist du eine Optimistin oder eine Pessimistin?" Sie schaute auf ihre Uhr und sagte: "Ich bin optimistisch." "In diesem Fall habe ich schlechte Neuigkeiten für dich, denn sobald es einfach genug ist, und es dauert nicht mehr lange, zerstört die Menschheit sich selbst." "Warum machen dich schöne Lieder traurig?" "Weil sie nicht wahr sind." "Nie?" "Nichts auf der Welt ist schön und wahr." "Du klingst genau wie dein Dad."


-Jonathan Safran Foer

1 Kommentar:

  1. also ich finde die lieder am schönsten, die wahr sind. aber traurig machen sie, damit hat er recht.

    AntwortenLöschen